II.5. Liebe und Tod: Die Kunst der Hingabe
Die Bildsprache der Andacht stellt ein Paradoxon dar. Im Gegensatz zur Liturgie - einer im Wesentlichen öffentlichen Form des Gottesdienstes, die äußere Rituale aller Art umfasst, einschließlich gemeinsamer Zeremonien des Gedenkens und der Danksagung - tendiert die Andacht theoretisch zur Innerlichkeit, so die Annahme.
Die Bildsprache der Andacht stellt ein Paradoxon dar. Im Gegensatz zur Liturgie - einer im Wesentlichen öffentlichen Form des Gottesdienstes, die äußere Rituale aller Art umfasst, einschließlich gemeinsamer Zeremonien des Gedenkens und der Danksagung - tendiert die Andacht theoretisch zur Innerlichkeit.
Während die Anbetung die Gruppe definiert, charakterisiert die Hingabe den frommen oder gar heiligen Einzelnen. Nach den Andachtsbildern des späteren Mittelalters zu urteilen, bedurfte die Innerlichkeit jedoch eines starken äußeren Ausdrucks. Die Andachtsbilder sollten nicht nur die Andachtserfahrung des Betrachters untermauern, sondern auch gestalten. Vorbild und Erfahrung standen in enger Beziehung zueinander: Die Innerlichkeit wurde in die Form imaginativer Bilder geprägt, die wiederum auf immer ausgefeiltere Andachtsroutinen reagierten. Keine Periode in der Geschichte des Christentums erwies sich als so fruchtbar, was die Schaffung neuer Bildgattungen anbelangt, oder als so produktiv, was die schiere Menge der produzierten Bilder anbelangt. Einerseits brachte das Spätmittelalter exquisite, hoch personalisierte Kunstwerke hervor. Andererseits war es Zeuge der Anfänge der modernen Massenproduktion, und zwar nicht nur im Bereich des Buchdrucks. Die Überproduktion von Bildern bildet einen wesentlichen Teil des Hintergrunds für die protestantische Reformation, die ihrerseits zur Zerstörung von Bildern in einem noch nie dagewesenen Ausmaß führte.
Das Leben Christi, insbesondere seine Passion (Kat. Nr. 117, 137, 151), und das seiner Mutter, der Jungfrau Maria, beherrschten zusammen mit Heiligenbildern die Andachtsvorstellungen. Vor allem die hagiografische Bildsprache konnte Elemente der Epik und der Romantik in religiöse Themen einbringen. In einem italienischen Andachtsbuch (Kat. Nr. 136), das ausschließlich aus Bildern besteht, die unabhängig von einem Text zur Meditation anregen sollten, rettet beispielsweise ein schneidiger St. Georg, die Verkörperung reiterlicher Tapferkeit, eine betende Prinzessin (vielleicht eine Figur, mit der sich der Besitzer des Buches identifizieren konnte) vor einem Drachen mit gewundenem Hals, den eine spätere Inschrift als das "Tier der Apokalypse" bezeichnet. Es ist anzunehmen, dass Christusbilder Männer und Marienbilder Frauen ansprachen. Die Zuweisung der Geschlechterrollen war jedoch nicht so einfach zu bewerkstelligen. Der Körper Christi wurde in seiner Verletzlichkeit verweiblicht; Maria, in deren Körper Christus Fleisch annahm, wurde als beispielhafte Verkörperung der Frömmigkeit als Priesterin charakterisiert. Andachtsbilder hatten nicht immer narrativen Charakter. Nicht-narrative Bilder wie der Schmerzensmann (Kat. Nr. 128, 133, 228), die Arma Christi (Insignien der Passion, vor allem die Wunden Christi) (Kat. Nr. 139, 140), der Heilige Name (Kat. Nr. 141), die Madonna der Demut (Kat. Nr. 129) oder Maria als Vorbild der Frömmigkeit (Kat. Nr. 103) boten Anknüpfungspunkte für eine längere Meditation über die Bedeutung und die persönliche Bedeutung der Heilsgeschichte.
Spätmittelalterliche Andachtsbilder können dem modernen Betrachter in ihrer obsessiven Konzentration auf materielle, körperliche Manifestationen der Frömmigkeit, insbesondere auf den Leib Christi, als barock, ja bizarr erscheinen. Aufgrund der Inkarnation (der Lehre, nach der Gott in der Person des leidenden Christus Fleisch angenommen hat) war das Materielle jedoch ein Tor zum Göttlichen.